Die schweren Erdbeben von 2015 in der nepalesischen Himalaya-Region weckten in Walter Notter neuen Tatendrang. Noch auf dem Rückflug aus Kathmandu entwickelte der Pionier in Sachen Textilien aus exklusiven Naturfasern das Anaginti-Hilfsprojekt «Eine Million Schals für Nepal».
Seit 36 Jahren ist der gebürtige Aargauer Walter Notter in der Textilbranche tätig. Dem leidenschaftlichen Verkäufer hat es im Juni 2015 angesichts der verheerenden Zerstörung nach den beiden schweren Erdbeben von Ende April und Mitte Mai in der HimalayaRegion buchstäblich die Sprache verschlagen. Und das will beim umtriebigen Notter etwas heissen. Seit sich Walter Notter 1982 als Textilfachmann selbstständig gemacht hat, arbeitet er eng mit tibetischen und nepalesischen Teppichknüpfern, Wollspinnern und Webern vor Ort zusammen. Für seine Firma Creation Walter Notter war er seinerzeit auch der Erste, der mit einem Farbkoffer zu seinen Kunden ging und ihnen völlige Freiheit bot, was Grösse, Motiv- und Farbwahl ihrer Teppiche betraf. «Damals zeichnete ich die Kundenwünsche noch mit farbigen Filzstiften auf ein Blatt Papier und schickte die Bestellungen per Post nach Nepal. Da wartete man dann auch ein halbes Jahr auf das Endprodukt», erinnert sich Notter. Heute dauert die Produktion eines sechs Quadratmeter grossen, handgeknüpften Teppichs gerade mal acht bis zehn Wochen. Von Teppichen hat Notter dann bald auch schon den Weg zu edlen Kleidungsstücken und Schals aus Naturfaser gefunden.

Arktisches Gold um den Hals
Naturfaser ist aber nicht gleich Naturfaser. Das weiss auch Walter Notter. Deshalb gilt sein Interesse weniger der bekannten Wolle der Kaschmirziege, sondern seit Jahren dem weichen, äusserst seltenen Winterflaum des Moschusochsen, welchen die Eskimos Qiviut nennen. Dieser Flaum wird wegen seiner hervorragenden Eigen schaften und der stark eingeschränkten Verfügbarkeit nicht umsonst als «arktisches Gold» bezeichnet (siehe Infobox). Walter Notter sieht sein Engagement als Brückenschlag zwischen den Menschen und auch als solchen zwischen den Bergregionen des Himalaja und der Alpen. Keine noch so ausgefallene Idee ist ihm zu abwegig, wenn es darum geht, für die Qualitäten der Naturfaser des Moschusochsen oder des asiatischen Steinbocks Yangir zu werben. So präsentierte er vor drei Jahren den mit 167 Metern längsten, handgesponnenen Schal der Welt. Der Erlös der 66 daraus konfektionierten Einzelschals kam damals den produzierenden Menschen vor Ort ebenso zugute, wie es seine neue Hilfsidee auch wieder tun soll.
Eine Million Schals für Nepal
Eine Million Schals wird er nicht sofort produzieren lassen und verkaufen können. «Aber es geht nicht um die Zahl an sich, sondern um die Idee, die hinter dem Anaginti-Projekt steckt.» Anaginti umschreibt auf Nepalesisch den Begriff «grenzenlos». Seit 2010 betreibt Notter zusammen mit lokalen Partnern in Kathmandu eine Spinn- und Webschule. Hier arbeiten mittlerweile 15 Personen. Rund 270 000 Franken benötigt Notter für seine aktuellen Expansionspläne. Er möchte seinen Produktionsbetrieb an den Rand der nepalesischen Hauptstadt verlagern, vergrössern und diesen mit einer eigenen Pflanzenfärberei ergänzen. «Im Endausbau könnten dort jährlich bis zu 60 000 Schals von A bis Z produziert und die Wertschöpfung entsprechend vor Ort behalten werden.» Er rechnet damit, dereinst rund 30 bis 40 Prozent des Verkaufserlöses dort wieder reinvestieren und zusätzlich weitere Hilfsprojekte unterstützen zu können. Neben einer geeigneten Parzelle für die neue Produktionsstätte sucht Walter Notter auch einen Investor, der ihn in seinen Plänen unterstützt. «Aber nicht einen, dem ich alle paar Tage Renditezahlen vorlegen muss, sondern einen, der mit Herzblut bei der Sache ist.» Ein exklusiver, handversponnener Schal aus reinem Qiviut kostet in Notters Spezialitätengeschäft in Pontresina bis zu 1 400 Franken. Den günstigsten Schal bietet er für rund 200 Franken an. Um sein Ziel der eigenen Pflanzenfärberei voranzutreiben, hat sich Walter Notter mit der 76-jährigen Färberin Verena Zortea zusammengetan. Zortea – Notter nennt sie liebevoll «meine Färberhexe» – färbt seit 35 Jahren Textilien mit allerlei verschiedenen Pflanzen und macht auch vor Pilzextrakten oder Rosmarin nicht Halt. Zusammen mit ihr möchte Notter aus der nepalesischen Tradition ausbrechen und mittels Rezeptbüchern dafür sorgen, dass die Kunst der Pflanzenfärberei zukünftig nicht mehr ausschliesslich innerhalb der Färberfamilien mündlich überliefert wird und auch verhindern, dass diese dereinst in Vergessenheit gerät.
Zum Schal einen Handschmeichler
Walter Notter sucht aber auch hierzulande Frauen, Farbberaterinnen oder solche, die aus der Textilbranche kommen und gegen eine faire Entlöhnung die edlen Naturfaserprodukte bewerben und unter die Leute bringen. Wer bei Walter Notter in Pontresina einen dieser flauschig-weichen Naturfaserschals aus dem Anaginti-Projekt kauft, darf sich als Geschenk aus dem grossen Glasgefäss auf der Verkaufstheke einen farbigen Halbedelstein aussuchen. «Steine müssen wandern», sagt Notter zur Funktion dieser «Handschmeichler». Das ist nämlich das Dankeschön der Spinner und Weber dafür, «dass sie für dich arbeiten konnten. Sie haben dort praktisch nichts und lachen trotzdem den ganzen Tag.»
«Umingmak» – der Flaum des Bärtigen

Über Jahrtausende isolierten die Menschen in der Arktis ihre Stiefel aus Seehundsfell mit losem Qiviut – der Unterwolle des Moschusochsen. Diesen wiederum nennen die Eskimos ehrfurchtsvoll «Umingmak», den Bärtigen. Der Moschusochse (Ovibos moschatus) ist ein Paarhufer aus der Unterfamilie der Antilopinae und damit der Verwandtschaftsgruppe der Ziegenartigen (Caprini) zugehörig. Moschusochsen bewohnen die arktischen Tundren und kommen heute neben Grönland, Kanada und Alaska auch in Nordsibirien, Norwegen oder Schweden vor. In der Arktis, dem Ursprungsgebiet des Moschusochsen, konnten die Bestände dank Artenschutz, Umsicht und Hege von rund 3000 Tieren im Jahre 1917 auf aktuell wieder rund 160 000 Tieren gesichert werden. In der Sprache der Inuvialuit-Eskimos wird mit Qiviut der Flaum respektive das Winterkleid des Moschusochsen be- Weiterführende Infos: www.qiviut.ch zeichnet. Diese warme Unterwolle kann nicht geschoren werden, sondern muss vom Tier ausgekämmt oder an Scheuerplätzen gesammelt werden. Von einem ausgewachsenen Moschusochsen können so jährlich nur gerade zwei bis drei Kilogramm Qiviut gewonnen werden. Weil generell jährlich und weltweit nur etwa fünf bis sechs Tonnen Qiviut verfügbar sind, bezeichnen Textilexperten diese Naturfaser, die rund 7000 mal seltener als Kaschmir und acht Mal wärmer als Schafwolle ist, als «arktisches Gold». Der unvergleichliche Wärmeeffekt der Qiviut-Naturfaser basiert auf deren feinen, inneren Luftkanälen, welche 50 bis 60 Prozent des Faservolumens ausmachen können. Neben Qiviut werden auch die Naturfasern des sibirischen Steinbocks (Yangir) oder der Vikunja, welche zusammen mit dem Alpaka zu der Familie der Kamele gehört, zu edlen Textilien verarbeitet.
Quelle: Engadiner Post


